Das Portrait

Von Herbert Glossner
Abdruck in der Zeitschrift „Musik und Kirche 6/2003 ,
Kassel, Dezember 2003


Immer im Einsatz: Neithard Bethke ist Kantor, Organist, Komponist …und Feuerwehrhauptmann


Seit fast 35 Jahren ist Neithard Bethke Domkantor- und organist im holsteinischen Ratzeburg mit seinem großen romanischen Dom. Wer sich in diese  seenreiche Provinz begibt, trifft auf ein rares Exemplar von Kirchenmusiker, dessen Tag mehr als die üblichen 24 Stunden zu haben scheint. Bethkes Arbeitspensum, zu dem auch die Tätigkeit bei der Feuerwehr gehört, ist immens, seine Tätigkeit strahlt weit über den idyllischen Ort hinaus. Konzerte führen ihn rund um die Welt, aber Kraftzentrum bleibt die berühmte Rieger - Orgel seiner Kirche.
Kantor und Organist zu sein, ist noch normal, auch wenn die Kirche ein historisch und topographisch herausragender Dom ist. Komponieren, zum sonntäglichen Gebrauch und mit höheren Ansprüchen, gehört für manche seiner Kollegen und Kolleginnen ebenfalls dazu. Vielleicht ist unter ihnen sogar ein „begeisterter Sportflieger“, wie Neithard Bethke einer ist. Was diesen aber ganz und gar von allen unterscheidet: er ist ein bei der Berufsfeuerwehr Hamburg ausgebildeter Feuerwehrmann, im Rang eines  Hauptbrandmeisters, z. Zt. Wehrführer der Freiwilligen Feuerwehr Ratzeburg., seinen 250. Einsatz im laufenden Jahr hat er gerade hinter sich:  Ein Rettungs-Profi mit Pieper in der Tasche und Helm im Kofferraum, stets abrufbar, wenn er nicht gerade Gottesdienst spielt oder auf Tournee ist. „Fire Chief“ steht auf seinem Auto, das mit Pulverlöschern und Rettungsgerät beladen ist.

Trotzdem: Er will davon nicht groß Aufhebens machen. Tätig sein, für andere helfend da sein, ist ihm Christenpflicht. Wahrheit und Wahrhaftigkeit sind seine Leitworte. Seine „Überzeugung vorleben“ bestimmt sein Handeln. Sein Amt ist das eine, und was daraus folgt: „Hauptsächlich bin ich Komponist.“ Aber sein Leben ist andererseits ein Ganzes, geformt aus Dithmarscher Bodenständigkeit und geistig-künstlerischem Tatendrang, so temperamentvoll wie nachsinnend, mit klaren Standpunkten und nicht ohne Sendungsbewusstsein. Unbequem sei er für andere, das räumt er ein, aber auch mit sich selbst. Er kriegt das hin mit seiner Zeit, auch mit seiner Kraft. Stress? Er lacht. „Ich lebe so gern. Ausruhen kann ich im Grab!“

Wie eng seine Welt der Musik und die Wirklichkeit ineinander verwoben sind, erlebte Bethke exemplarisch 1992. Er hatte gerade im Ratzeburger Dom sein Oratorium „Media vita in morte sumus“ op. 23 (1973) dirigiert, da trat der Tod mitten in sein Leben, kommentiert in einem weltweiten Medienspektakel: Das Wohnhaus mit türkischen Familien im nahen Mölln brannte, Menschen starben, Menschen wurden gerettet, auch persönlich von Neithard Bethke, der – gerade als Erster Wehrführer gewählt -  als Einsatzleiter an einer von zwei gleichzeitigen Brandstellen eingesetzt war. Es ging auch für ihn um Leben und Tod.  - Die Wahl der Themen und Texte für sein Komponieren macht deutlich, was ihm wichtig ist: das Kirchenjahr und der Choral. Das Oratorium „Media vita“ rundete er in den folgenden Jahren mit „Christus natus est hodie“ op. 24 für Weihnachten und „Cruxifixus est pro nobis“ op. 25 für Karfreitag zur oratorischen Trilogie, deren Druck in naher Aussicht steht.

Zu bekannten Texten  von Dietrich Bonhoeffer und Jochen Klepper schrieb er neue Melodien und dazu Variationen für Orgel und Kantatenbesetzungen. Das berühmte Friedensgebet  (nach Franz von Assisi, 1967, op.11) wurde zur Motette, deren Material 1991 - Anlass war die Vereinigung Deutschlands - in seine Symphonie Nr. 1  „Da Pacem“ für großes Orchester als sein op. 50 einging. Daneben spielen – abgesehen von einer Reihe freier Orchester- und weltlicher Vokalwerke - seine Wirkungsstätten eine bezeichnende Rolle.

Das „Wöhrdener Orgelbuch“ op. 1-6, benannt nach dem Ort in Holstein, wo er 1942 geboren wurde, vereint Kompositionen des 20 - bis 22- Jährigen. Denn bereits mit sieben Jahren spielte der Sohn eines früheren Missionars, dann Pastors und der damals jüngsten Klavierprofessorin Deutschlands seinen ersten Gottesdienst. Sechs Jahre später, im Alter von 13 Jahren also,  war er in Wöhrden fest angestellter Organist und Kantor und begann 1962 in Lübeck ein Studium der Kirchenmusik, Dirigieren und Komposition. Das „Wöhrdener Kantatenbuch“ (op.7-10) entstand. Bis 1968 absolvierte er, zuletzt in Freiburg/Breisgau, alle Examina, das Kapellmeisterexamen und das Orgel-Konzertexamen eingeschlossen. Zwei Jahre war er Kirchenmusiker an der Bodelschwingh-Kirche  in Lübeck, dort entstand das „Lübecker Motettenbuch (op. 11-14). Von 1963 bis 1972 war er nebenbei der erste Assistenzorganist von Walter Kraft an der großen St. Marienkirche in Lübeck. Aus dieser Arbeit entstanden die „Lübecker Geistlichen Konzerte“ op. 15 -18 . Seit 1969 ist er Domorganist und Kantor am Dom zu Ratzeburg, der nie seine Zugehörigkeit zur Mecklenburgischen Landeskirche verloren hatte -  möglicherweise ein Schlüssel für Bethkes intensive Ost-West-Begegnungen schon vor der Wende. Dort wuchsen die „Weltlichen Chorlieder“ op. 26 und 27 sowie das „Ratzeburger Orgelbuch“ op. 28-31 und die „Ratzeburger Chormusiken“ Teil I op. 32-35.

Schon neben dem regulären Studium und auch weiterhin während der berufsausübung suchte er sich namhafte Lehrer, die ihn weiter bringen sollten: Kurt Thomas etwa für Chorleitung, Jens Rohwer und Ernst - Gernot Klußmann für Komposition, Igor Markevitch für die Orchesterarbeit, Walter Kraft, Pierre Cochereau, Jean Guillou und Fernando Tagliavini fürs Orgelspiel. Nicht genug der Neugier: Bereits Kirchenmusikdirektor, promovierte er nach einem Studium der Musikwissenschaft, Geschichte und Theologie 1986 in Kiel zum Dr. phil., eine theologische Dissertation hat er fast fertig in der Schublade. Der Professorentitel, ihm im Bach - Jahr 2000 von der Landesregierung verliehen, ist die jüngste Würdigung seiner weltumspannenden Arbeit.

Sein dirigentisches Repertoire reicht von Schütz bis Messiaen, von „Figaro“ und „La Bohème“ bis Strawinsky und Penderecki, Bachs Werke, alle großen Oratorien, auch Sinfonien eingeschlossen, und Bethkes eigene Werke  immer dabei. Der „Feuervogel“ von Strawinsky wurde ihm mit gleichem Elan dirigiert wie „Till Eulenspiegels lustige Streiche“ von Strauss. Er gibt Orgelkonzerte, dirigiert, hält Gastvorlesungen, und das in ganz  Europa, besonders Osteuropa, in Lateinamerika und den USA, in Asien und Australien, in Kanada, Island, in Kasachstan ebenso wie in Florenz. Er gibt zu, dass er früher erst einmal PR - Arbeit in eigener Sache leisten musste, bis er in Deutschland anerkannt war. Doch sein Zentrum liegt auf der Ratzeburger Dominsel: Dommusiken durchs ganze Jahr, mit Gästen, mit seinem vorzüglichen Domchor und dem imponierenden Deutschen Bachorchester, das er seit 1981 leitet. Die imposante romanische Basilika verdankt ihm neben einer Chor- und  der „Paradies“- Orgel auch die viermanualige Rieger-Orgel (1978), an der Westwand mächtig aus dem Kirchenschiff aufragend. Besonders sie lockt internationale Solisten und Studenten, seit Neithard Bethke mit seinem Amtsantritt die „Ratzeburger Sommerakademie“ begründete, zweiwöchige Meisterkurse, auch für Orchester, dieses Jahr zum 35. Mal (2003). Mehr als tausend Studenten durchliefen hier seine Schule, viele sind zu bedeutenden Künstlern arriviert.

Ohne die gottesdienstliche und pädagogische Praxis ist der Komponist Neithard Bethke schwer vorzustellen. Er will „etwas sagen“ mit seiner Musik, und das soll verstanden werden. „L´art pour l´art ist nicht mein Ideal, wenngleich ich auf höchsten künstlerischen Anspruch wert lege, aber verstanden muß meine Musik werden, d. h. , ich muß sie verstehbar schreiben und verständlich wiedergeben.“ Er vergleicht das mit dem Alphabet, aus dem sich die Worte bilden; es würden schließlich für neue Aussagen auch keine neuen Buchstaben erfunden. Doch das wäre auch ein Argument für die Zwölftontechnik, die er zwar gelernt hat. Aber er sieht vielmehr den frühen Hindemith als Ausgangspunkt. Nachhaltig beeindruckt hat ihn Karl Amadeus Hartmann. Die Dur- Moll –Tonalität ist die Wurzel, aus der Eigenes entwächst. Da kann aus komplexen Akkordschichtungen immer wieder ein Dur- Schluss hervorleuchten.

Mit allen Techniken vertraut, alten Formen verbunden, neuen Versuchen gleichermaßen stets aufgeschlossen, schreibt er spielerisch genuin für die Orgel, gibt den Singstimmen von der Psalmodie bis zur Poyphonie Raum, setzt auch das Orchester sinn- und wortbezogen ein. Ein Kritiker der Süddeutschen Zeitung schrieb vor kurzer Zeit  einen Vergleich zwischen den Kompositionen von Draesecke, Strauss und Bethke, und kam zu überraschenden Übereinstimmungen der musikalischen und künstlerischen Aussage. In welche ehrende Konkurrenz wurde Bethke da hineingestellt?

Im Merseburger-Verlag in Kassel sind inzwischen zahlreiche seiner Kompositionen erschienen, einige sind auch in anderen Verlagen ediert. An diesem Jahresende kann man an auffallend vielen Orten  in Deutschland auf den Programmen der Kirchen- und Weihnachtsmusiken Kantaten aus op. 46 – 49 zur Advents- und Weihnachtszeit finden.

Während gerade sein opus 70, das „Ratzeburger Chorbuch“ mit aus verschiedenen Werken zusammengestellten Einzelsätzen für Chor zum Gebrauch in den Gottesdiensten im Druck erscheint, ist er noch ständig an der Arbeit seiner  Kosmischen Parabel, seiner zweiten Symphonie op. 60,  mit herkömmlichen Instrumentarium, welches zum Teil wie bei fast allen Werken Janaceks bis an die Grenzen der Spielbarkeit eingesetzt wird, mit Anwendung auch elektronisch erzeugter Klänge und Geräusche, das Ganze nach mehrsprachigen Texten von Astronauten verschiedener Nationalität, die diese aus dem Weltraum zur Erde funkten. Aber auch hier betont Bethke: „Ich will nicht Effekte und billige Effekthascherei, sondern Affekte, in musikalische Formen gegossene Emotion, Geist und Witz!“ Wir dürfen auf die Uraufführung,  sehr gespannt sein. Derweilen können wir uns erfreuen an vielen auf CD eingespielten Musiken unter Neithard Bethkes Leitung (Kantaten, Oratorien, Orchestermusiken) als auch mit authentischen Aufnahmen seiner eigenen Werke (Orgelmusiken, Kantaten, Kammermusiken), die uns neugierig auf ein „Mehr“ machen könnten!

(Leicht erweiterte Fassung für das Programmbuch der Ratzeburger Dommusiken durch N. Bethke)